River
- Auf ihrer Kawasaki, 5. Juli, 6:00
VIVIEN (singt) Wo das Tal breit und staubig ist,
sich am Horizont die Strasse verliert,
da wo Bergspitzen sich erheben, locken.
Ich hab mein Bündel gepackt,
die Stiefel geschnürt,
die Hühner gefüttert,
der Katze ins Ohr geflüstert:
Der Fluss ist trocken,
die Zeit reif,
die Berge, sie glühen.
Ich lass den Motor aufheulen.
Fahre los,
ich fahre.
Fahre auf rotem Sand
einer schlaflosen Nacht
entgegen.
- VIVIEN auf ihrer Kawasaki, Salina, 5. Juli, 6:30
Vivien fährt durch das ausgetrocknete Flussbett. Am Horizont fächern sich erste Sonnenstrahlen auf und tauchen das Tal in einen roten Schimmer. Sie gibt Gas und kurvt die steile Strasse hinunter zum Meer, parkt ihre Kawasaki an der Uferpromenade und schlendert zum Leuchtturm von Punta Lingua. Ihre Schritte sind entschlossen. Sie zieht ihr Badekleid an und watet über die grossen, runden Steine ins Wasser. Klingende Steine, die seit Jahrtausenden hin- und herrollen. Das Wasser umspült Viviens Knöchel, die Waden, Knie, Oberschenkel, ihre Hüften, den Bauch, die Brüste. – Sie schwimmt in der Rückenlage und lauscht dem Rauschen der Wellen, dem Gurgeln der Steine und lässt sich tragen vom Meer.
- VIVIEN Tankstelle «Due Soldi», Salina, 5. Juli, 8:00
Vivien fährt auf ihrer Kawasaki der Küste entlang. Den Helm hat sie am Lenker festgezurrt. Ihre nassen Haare flattern im Wind. Sie zweigt ab Richtung Tankstelle. Der Tankwart steht an der Zapfsäule. Sie fährt dicht an ihn heran, bremst abrupt. Roter Sand wirbelt auf. Der Tankwart weicht einen Schritt zurück, hustet, klopft sich den Staub von seiner Jeans und blinzelt. Vivien schraubt den Tankdeckel auf. Der Tankwart steckt das Rohr in den Tank und lässt Benzin einfliessen.
TANKWART 1 Du verscheuchst meine Vögel.
VIVIEN (lacht)
TANKWART 1 Du fährst also?
VIVIEN Jetzt fahre ich.
TANKWART 1 Mit nassem Haar?
VIVIEN (schüttelt ihre Mähne)
(Pause)
TANKWART 1 Hat er sich gemeldet?
VIVIEN Nichts Neues.
(Pause)
TANKWART 1 Hält dich ganz schön auf Trab, der River.
VIVIEN (nickt)
Der Tank ist voll, der Tankwart zieht das Rohr heraus. Vivien schraubt den Deckel auf den Tank und steigt vom Motorrad.
TANKWART 1 E do da mangiare alle galline, al gatto?
VIVIEN Volentieri (küsst ihn auf die Stirn). Zeigst du mir noch die Äpfel?
Sie bindet sich die Haare mit einem Tuch zusammen. Der Tankwart führt sie ums Haus.
VIVIEN Ich weiss nicht, wann ich wiederkomme.
TANKWART 1 Mach dir keine Sorgen.
Hinter dem Haus liegt eine ockerfarbene Wiese. Der Tankwart zeigt auf einen Baum.
TANKWART 1 Letztes Jahr drei, dieses Jahr neun.
Und manchmal sitzt ein Vogel auf dem Baum.
VIVIEN Der hat blauschimmernde Federn.
TANKWART 1 Und er pfeift sein Lied so laut, dass ich es von der anderen Seite hören kann. Dann lauf ich rasch ums Haus.
VIVIEN Du spähst und siehst ihn auf dem Ast sitzen.
TANKWART 1 Da, wo die Äpfel hängen.
VIVIEN Und er guckt dich an.
TANKWART 1 Und er guckt mich an.
VIVIEN Und der Vogel hört auf zu zwitschern.
TANKWART 1 Hört einfach auf.
VIVIEN Du läufst zurück, bedienst weiter.
TANKWART 1 Und da hör ich ihn wieder.
VIVIEN Du hörst ihn trällern.
TANKWART Tilüpp tilüpp tilüpp.
(Pause)
VIVIEN Aber jetzt ist er nicht da, dein schöner Vogel.
TANKWART 1 Nein, jetzt ist er nicht da.
VIVIEN Ich hab ihn verscheucht.
TANKWART 1 Du hast ihn verscheucht.
VIVIEN Er kommt wieder, sagst du doch immer an dieser Stelle.
Der Tankwart legt seinen Arm um Viviens Schulter.